Männermordende Kriegerinnen – Mythos oder Realität?

 

Die Vorstellung von männervernichtenden Kriegerinnen fasziniert seit Jahrhunderten. Doch wie viel Wahrheit steckt hinter den Mythen der Amazonen? Archäologische Funde und antike Berichte zeichnen ein Bild, das weit über erotisierte Männerfantasien hinausgeht – hinein in die Steppen des pontischen Raums, wo mutige Frauen Seite an Seite mit Männern kämpften.

Der Mythos der Amazonen: Zwischen Herodot und Homer

Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, platzierte die Amazonen im Norden des Schwarzen Meeres, wo sie auf die wilden Skythen trafen. Diese nannten sie „Oiorpata“, was übersetzt „Männermörderinnen“ bedeutet – ein Name, den die Kriegerinnen in den Überlieferungen eindrucksvoll untermauerten. Die Berichte von Schiffsentführungen und grausamen Vergeltungsakten verliehen ihnen eine fast übermenschliche Aura.

In Homers „Ilias“ treten die Amazonen als „Männern gleichwertig“ auf. Selbst der unbezwingbare Achilles kann nur durch einen epischen Zweikampf die Amazone Penthesilea überwinden. Doch ihre Schönheit und Stärke beeindruckten ihn so sehr, dass er ihren Leichnam den Trojanern für ein ehrenvolles Begräbnis überließ.

Funde in der Steppe: Waffen und Wunden

Lange galten die Amazonen als reine Legenden. Doch moderne Archäologie schreibt ein neues Kapitel: Grabhügel in der pontischen Steppe, sogenannte Kurgane, enthalten Skelette von Frauen, die mit Waffen beigesetzt wurden. Besonders auffällig: viele dieser Skelette tragen Spuren von Verletzungen durch Hieb- und Stichwaffen, was auf ein aktives Leben als Kämpferinnen hinweist.

Harald Haarmann, renommierter Sprachwissenschaftler, hebt in seinem Buch „Vergessene Kulturen der Weltgeschichte“ hervor, dass diese Funde Belege für die Existenz reitender Kriegerinnen sind. Pfeil und Bogen, die bevorzugten Waffen der Amazonen, ermöglichten es ihnen, physische Unterlegenheit gegenüber Männern auszugleichen. Ihre Treffsicherheit und strategische Brillanz machten sie zu gefürchteten Gegnerinnen.

Das „Reich der Amazonen“: Realität oder romantisierte Projektion?

Die These, die Amazonen hätten ein eigenes Reich gebildet, bleibt umstritten. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie in die Reiterformationen der Skythen oder Sarmaten integriert waren. Dennoch: ihre militärischen Ehrenbestattungen und die mythologischen Überlieferungen belegen ihre herausragende Stellung innerhalb dieser Kulturen.

Der antike Dichter Homer und spätere Autoren wie Quintus von Smyrna schildern sie stets als Gegner der Griechen. Diese Frontstellung hatte nicht nur politische, sondern auch psychologische Gründe. Die Amazonen symbolisierten für die hellenischen Männer die „kollektive Personifikation des frappierend Anderen“ – selbstbewusste, unabhängige Frauen, die traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellten.

Erotische Faszination und kulturelle Widersprüche

Die Griechen fürchteten und begehrten die Amazonen gleichermaßen. Die erotische Komponente ihrer Darstellung zeigt sich in Kunstwerken und Legenden. Etwa bei der Einweihung des Artemistempels von Ephesos, wo vier Künstler beauftragt wurden, Statuen der Amazonen zu schaffen. Polyklets „verwundete Amazone“ bleibt ein Meilenstein der antiken Bildhauerei – eine Frau, stark und verletzlich zugleich, Sinnbild eines faszinierenden Dualismus.

Gleichzeitig diente die Darstellung von männermordenden Frauen als warnendes Beispiel für eine Bedrohung der männlich dominierten Gesellschaftsordnung. Sie widersprachen den hellenischen Idealen von Weiblichkeit und stellten durch ihre Stärke die Macht der Polis und ihrer Bürger in Frage.

Ein modernes Bild von Amazonen

Die Faszination für die Amazonen lebt bis heute fort, in Popkultur, Literatur und Film. Sie stehen für Stärke, Unabhängigkeit und die Überwindung traditioneller Grenzen. Archäologische Beweise und historische Texte belegen, dass die Amazonen mehr waren als nur ein Mythos – sie waren lebendige Zeugen einer außergewöhnlichen Epoche, in der Frauen das Schlachtfeld ebenso dominierten wie Männer.